Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Bacewicz: Symphonien Nr. 3 & 4

Grażyna Bacewicz: Symphonien Nr. 3 & 4, Ouverture. BBC Symphony Orchestra, Sakari Oramo. SACD, Chandos CHSA 5316 (Note 1)

Ganz langsam scheint Grażyna Bacewicz auch im Westen mehr Beachtung zu finden: WDR und BBC gehen auf lohnende Schatzsuche. Bacewicz ist die wohl wichtigste polnische Komponistin des vergangenen Jahrhunderts: Zeitzeugin des Umbruchs, formbewusste Dramatikerin und farbenreiche Gestalterin. Sakari Oramo und das BBC Symphony Orchestra illuminieren die dritte und vierte Symphonie angemessen »furioso«, erwünscht »drammatico«, aber nie theatralisch. Die überaus spielfreudige Ouvertüre für Orchester ist tongewordene Überlebensfreude. Für die Jury: Rainer Wagner

Orchestermusik und Konzerte

Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 2

Sergej Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 2 c-moll op. 18, Corelli-Variationen op. 42 u.a.. Kirill Gerstein, Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko. SACD, Berliner Philharmoniker Recordings BPHR230469 (Direktvertrieb)

Es mag bei einem so vielgespielten Werk wie dem zweiten Rachmaninow-Konzert schwer zu glauben sein, aber hier gibt es wirklich etwas Neues zu entdecken: Diese Aufnahme ist hörbar anders als die vielen neuen Konzert-Einspielungen, die zum »Rachmaninow-Jahr« 2023 erschienen sind. Elegant und fast leicht, kraftvoll ohne zu strotzen und protzen, erstaunlich hell in ihren Klangfarben und hochintelligent im Zu- und Wechselspiel zwischen Solist und Orchester. Die beiden Kirills – Gerstein und Petrenko – widerlegen souverän alle Vorurteile gegen den Komponisten und sein Werk, die es ja leider immer noch gibt. Für die Jury: Michael Stegemann

Kammermusik

Solo

Werke für Violine von Nicola Matteis, Johann Georg Pisendel, Heinrich Ignaz Franz Biber, Louis-Gabriel Guillemain, Johann Joseph Vilsmayr. Isabelle Faust. harmonia mundi HMM 902678

Die Violine allein kann einfach alles – jedenfalls wenn Isabelle Faust sie spielt. Auf dieser CD musiziert sie barocke Werke von Biber bis Pisendel mit äußerster Strenge und entfesselt zugleich eine wilde Ausdruckskraft. Mal glaubt man, eine Festmusik für Bläser zu hören oder ein fröhliches Madrigal für einen ganzen Chor beschwingter Stimmen. Dann wieder klingt es nach höfischem Tanzvergnügen oder einer Jam-Session. Isabelle Faust entfaltet auf nur vier Saiten den ganzen Reichtum der Musik: raffiniert, opulent und überragend virtuos. Ein pralles Hörvergnügen. Für die Jury: Susanne Stähr

Kammermusik

Schumann: Klavierquartett und -quintett

Robert Schumann: Klavierquartett Es-Dur op. 47, Klavierquintett Es-Dur op. 44. Isabelle Faust, Anne Katharina Schreiber, Antoine Tamestit, Jean-Guihen Queyras, Alexander Melnikov. harmonia mundi HMM 902695

Ein kammermusikerfahrenes All-Star-Ensemble bringt Schumanns Meisterwerke auf erfrischende Weise neu zum Leuchten. Hervorragend aufeinander abgestimmt, bestens abgeschmeckt und niemals überwürzt, überraschen diese Aufnahmen durch eine durchleuchtete Feinzeichnung, eine Unterhaltung auf Augenhöhe, unterstützt durch die filigranen Nuancen des historischen Pleyel-Flügels von 1851, den Alexander Melnikov ausgewählt hat. Ein Ausloten romantischer Stimmungen, ein tiefer Blick unter die Oberfläche dieser viel gespielten Musik, wie man es bislang kaum einmal in dieser Qualität gehört hat. Für die Jury: Andreas Göbel

Tasteninstrumente

Waves

Jean-Philippe Rameau: Gavotte et six Doubles, Les Sauvages, Rondeau »Les Tendres plaintes«, Rondeau »Les Cyclopes«, Menuette I & II aus »Nouvelles Suites de Pièces de Clavecin«, La Poule und Werke von Charles Alkan und Maurice Ravel. Bruce Liu. Deutsche Grammophon 486 4400 (Universal)

Bruce Liu, Sieger beim Chopin-Wettbewerb 2021, schlägt Wellen auch mit dieser Debüt-CD. Mit präziser Anschlagstechnik, einem exzellenten Fingerspitzengefühl für Form und Phrasierung lässt er französische Musik für Tasteninstrumente aus drei Jahrhunderten mit unterschiedlicher Intensität an die Ohren seines Publikums schwappen. Als ob er bei Rameau noch mit der Oberflächenspannung spielen würde, wirbelt Liu mit Ravels »Miroirs« das Wasser auf und trübt es ein, ehe er mit einer virtuosen Alkan-Etüde einen regelrechten Tsunami entstehen lässt, dessen Wogen er abschließend wieder mit Rameau zu glätten weiß. Für die Jury: Marie-Theres Himmler

Tasteninstrumente

Byrd: Cembalo- und Orgelmusik

William Byrd: Sämtliche Cembalo- und Orgelwerke. Pieter-Jan Belder. 9 CDs, Brilliant Classics 97074 (Edel)

»Vater der Musik« – diese Ehrung macht deutlich, welch hohes Ansehen der englische Renaissance-Komponist William Byrd genoss. In seiner Musik für Tasteninstrumente erreichte er die Gipfel seiner Kunst. Der Niederländer Pieter-Jan Belder hat alle Cembalo- und Orgelwerke Byrds und dessen spektakuläre Sammlung »My Ladye Nevells Booke« auf 9 CDs samt detailliertem Booklet vorgelegt. Die Aufnahmen adelt ein umfassendes kritisches Quellenstudium sowie Belders Sensibilität für die Klangwirkungen spezifisch ausgewählter Instrumente, für organische Agogik und intelligente Phrasierung – rundum exzellent! Für die Jury: Sabine Fallenstein

Oper

Porpora: Polifemo

Nicola Antonio Porpora: Polifemo. Yuriy Mynenko, Max Emanuel Cenčić, Pavel Kudinow, Julia Lezhneva, Sonja Runje, Narea Son, Armonia Atenea, George Petrou. 3 CDs, Parnassus Arts Productions PARARTS 003 (Note 1)

Zu Lebzeiten als Komponist und Gesangslehrer in ganz Europa berühmt, fiel Porpora nach seinem Tod 1768 schnell der Vergessenheit anheim. Was haben ganze Generationen von Sängern und Opernliebhabern da verpasst! Doch seit einigen Jahren trumpft Parnassus Arts Productions mit Musikern um den Countertenor Max Emanuel Cenčić mit einer glänzenden Renaissance auf. Nach »Germanico in Germania« und »Carlo il Calvo« erscheint mit »Polifemo« jene Oper, mit der Farinelli, der berühmteste Kastrat überhaupt, 1735 in London debütierte. Welch’ ein Feuerwerk brillanter Koloraturkaskaden! Für die Jury: Martin Elste

Oper

Mascagni: Cavalleria Rusticana

Pietro Mascagni: Cavalleria Rusticana (Originalfassung). Carolina López Moreno, Giorgio Berrugi, Elisabetta Fiorillo, Domen Križaj, Eva Zaïcik, Balthasar Neumann Chor & Orchester, Thomas Hengelbrock. Prospero PROSP0088 (Note 1)

Thomas Hengelbrock, das auf der Basis der vorvergangenen Jahrhundertwende historisch informiert spielende Balthasar Neumann Orchester und der Balthasar Neumann Chor lassen den Hörer Mascagnis »Cavalleria rusticana« neu entdecken – entschlackt und doch voller Italianità. Vor allem aber in jener Länge und den Tonarten, die der Komponist in der Partitur seines Einakters von 1890 vorgesehen hatte. Hengelbrock war beim Quellenstudium darauf gestoßen – und revidierte. Die auch solistisch vorzüglich besetzte Referenzeinspielung sollte einen Wendepunkt in der Interpretationsgeschichte der Oper markieren. Für die Jury: Alexander Dick

Chor und Vokalensemble

Schumann: Missa sacra

Robert Schumann: Missa sacra op. 147, Vier doppelchörige Gesänge op. 141. Swedish Radio Choir, Kaspars Putniņš. SACD, BIS Records BIS-2697 (Klassik Center)

Der famose Schwedische Rundfunkchor blickt nach Düsseldorf und legt Robert Schumanns späte »Missa sacra« vor (in der Fassung für gemischten Chor, Solisten und Orgel). Unter der Leitung seines Chefdirigenten Kaspars Putniņš gelingt ihm die Verwandlung von vermeintlicher Handwerkskunst in hochexpressive Intensität. Wer immer glaubte, Schumann habe hier allenfalls holzgetäfelt komponiert, wird eines Besseren belehrt. Das »Kyrie« hat etwas unfassbar Mysteriöses, das »Gloria« protzt nicht mit aufgesetztem Überschwang, sondern ersteht feierlich. Die Zartheit des »Sanctus« ist nicht von dieser Welt. Für die Jury: Wolfram Goertz

Klassisches Lied und Vokalrecital

Enigma

»Frägt die Velt die alte Casche« – Musik von Andreas Tsiartas, Sergej Rachmaninow, Franz Schubert, Olivier Messiaen, Jörg Widmann u.a.. Sarah Aristidou, Daniel Arkadij Gerzenberg, Jörg Widmann. Alpha Classics ALPHA 740 (Naxos)

Die Stimme schwebt, atmet, flüstert, schreit. Verschattet, sternenklar. Schutzlos, a cappella, setzt sich Sarah Aristidou dem »Lamento turco« von Andreas Tsiartas aus – makellos die Technik, natürlich der Ausdruck, die gestaltende Intelligenz. Ob sie Endzeit-Echos bei Schubert nachspürt (»Der Hirt auf dem Felsen«), kosmisch klirrender Lakonie von Messiaen (»Répétition planétaire«) oder mit Klavierpartner Gerzenburg über das »Enigma« der Schöpfung improvisiert – Musik ist hier durchweg »existenzielle Erfahrung«. Nicht zuletzt das karg-lichte Stück »Sphinxensprüche und Rätselkanons«, das Jörg Widmann für Aristidou schrieb. Berückend schön. Für die Jury: Albrecht Thiemann

Alte Musik

Werner: Messen und Motetten

Gregor Joseph Werner: Messen und Motetten (Vol. 3). Magdalene Harer, Anne Bierwirth, Tobias Hunger, Markus Flaig, Voktett Hannover, la festa musicale, Lajos Rovatkay. Audite 97.819 (Note 1)

Früher Haydn mag interessant sein, aber ein gleichwertiges Vergnügen ist es, das reife Werk seines Vorgängers am Hofe Esterházy zu entdecken. In dieser Einspielung von Messen und Motetten Gregor Joseph Werners unter Leitung von Lajos Rovatkay – selbst ein bedeutender »Altmeister« seines Faches – verbinden sich Universalität und Vielfalt auf das Schönste: profunde Kenntnis des »Stile Antico« der Renaissance sowie zielgenau eingesetzte Expressivität und kontrapunktische Meisterschaft des Barock, mühelos vereint mit instrumentaler Virtuosität und Streben nach Klarheit und sensibler Anmut der anbrechenden Klassik. Für die Jury: Carsten Niemann

Zeitgenössische Musik

Lucia Dlugoszewski: Abyss and Caress

Klangforum Wien, Johannes Kalitzke, Tim Anderson, Peter Evans, Ilan Volkov. 2 CDs, col legno WWE 2 CD 20460 (Naxos)

Lucia Dlugoszewski war auf der Suche nach sinnlichen Zugängen zu Perkussion statt »patriachalem Trommeln«. Sie spürte Besonderheiten des »Resonanzkörpers Klavier« nach, statt sich mittels Präparationen lediglich auf perkussive Aspekte zu konzentrieren. Es ist kraftvolle Musik, in der Rhythmisches ebenso seinen Platz findet wie kompositorische Gedanken über Klangfarbe, Interaktion und Entwicklung. Lucia Dlugoszewskis geht ihren eigenen Weg – allen Widerständen der »Szene« zum Trotz. Zeit, die Musikgeschichte wieder ein wenig umzuschreiben. Für die Jury: Nina Polaschegg

Historische Aufnahmen

475 Jahre Sächsische Staatskapelle Dresden

»100 Jahre Tonaufnahmen« – Werke von R. Strauss, Wagner, Brahms, Borodin, Tschaikowsky u.a.. Fritz Busch, Rudolf Kempe, Karl Böhm, Kurt Sanderling, Joseph Keilberth, Herbert Blomstedt, Bernard Haitink, Christian Thielemann u.a.. 10 CDs, Profil PH23007 (Profil Medien)

Die große Resonanz der »Edition Staatskapelle Dresden« ist nicht zuletzt das Verdienst des Projektleiters Steffen Lieberwirth und des Tonmeisters Holger Siedler. Beide haben mit gewissenhafter Arbeit am Detail vorbildlich gezeigt, wie attraktiv und kreativ die Aufbereitung historischer Dokumente für heutige Hörer sein kann. So ist diese Zeitreise durch 100 Jahre Aufnahmegeschichte nicht nur wegen der Staatskapelle und ihrer großen Dirigenten (von Fritz Busch über Rudolf Kempe und Franz Konwitschny bis Christian Thielemann) eine Wohltat, sondern auch mit Blick auf das liebevoll gestaltete Booklet. Für die Jury: Thomas Voigt

Filmmusik

Robbie Robertson: Killers of the Flower Moon

Soundtrack from the Apple Original Film. Vince Giordano & The Nighthawks, Adam Nielsen, Andy Stein, Osage Tribal Singers u.a.. CD/LP, Masterworks 19658855272 (Sony)

Robbie Robertson, den Folkrock-Fans als Gitarristen und Songwriter vor allem aus dem Dylan-Universum kennen, hat für Martin Scorsese etwa ein Dutzend Filme wirkungsverstärkt. Robertson starb im August 2023, kurz vor der Premiere von »Killers of the Flower Moon«, diese Arbeit wurde sein Vermächtnis. Als Sohn einer Mohawk war er perfekt, um das Drama über die Osage Nation im Oklahoma der 1920er Jahre mitzuerzählen, kontrastierend und kommentierend. Dieser Mix, auch mit indigener Musik, Rock, Blues und Jazz, begleitet Scorseses Epos nicht nur, er trägt, treibt und beflügelt. Für die Jury: Joachim Mischke

Jazz

Stacey Kent: Summer Me, Winter Me

CD/2 LPs, naïve BLV 8224 (Soulfood)

Wenn man ihre Songs unvoreingenommen hört, könnte man auf die Idee kommen, es hier mit einer Singer/Songwriterin zu tun zu haben. So fantasievoll, so vielgestaltig klingen ihre Alben. Allesamt widmen sie sich klassischen Standards. Die Serie der Veröffentlichungen wird jetzt fortgesetzt mit dem Tribut an »The Voice«, an den Frank Sinatra. Stacey Kent, die Amerikanerin in England, legt damit Stücke vor, die bisher nur in Live- Konzerten vorkamen; das Material reicht vom »Great American Songbook« bis zum Chanson. Das sind Geschichten und Gefühle für jede Jahreszeit, wie immer arrangiert von Ehemann Jim Tomlinson und interpretiert »with love«. Für die Jury: Lothar Jänichen

Jazz

Koma Saxo & Petter Eldh: Post Koma

CD/LP, We Jazz WJCD 50 (Indigo)

Koma Saxo entwickelt den seit dem Debüt-Album von 2019 in die Welt gesetzten Sound beständig weiter, treibt ihn in unterschiedliche Richtungen und transzendiert dabei die Grenzen von Live-Performance und Post-Produktion. Das Projekt um den aus Schweden stammenden und die Berliner Szene aufmischenden Kontrabassisten Petter Eldh dekonstruiert und collagiert unterschiedlichste stilistische Ansätze: von Jazzimprovisation über Hip-Hop und Drum’n’Bass bis zu innovativem Sound Processing. Dabei passiert verblüffend viel Hörenswertes – und in den ausnahmslos kurzen Stücken oft mehr als auf manchem Doppelalbum. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Les Mamans du Congo & Rrobin: Ya Mizolé

CD/LP/Digital, Jarring Effects CD26081 (Broken Silence)

Tradition und moderne Hörgewohnheiten lassen sich vereinen, wenn man etwas zu erzählen hat. Die Mamans du Congo aus Brazzaville bringen traditionelle Lebensweisheiten, oft verpackt in Kinderlieder, und Geschichten aus dem Leben einer emanzipierten afrikanischen Frau zusammen. Um die Ohren der jüngeren Generation zu erreichen, nutzen die Frauen Trap- und Folktronica-Arrangements, bringen Rap und Call-and-Response-Techniken zusammen. Die Zusammenarbeit mit dem französischen Produzenten Rrobin hat sich mit diesem zweiten, gemeinsamen Album vertieft, bewegt sich auf Augenhöhe. Ya Mizolé verbindet gleich mehrere Welten. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Liedermacher

Johannes Kirchberg: Wie einst Lili Marleen

Eine Begegnung mit dem Dichter Hans Leip. dermenschistgut Musik CD 250692 (Indigo)

Als »eine Art Hörmuseum« will Johannes Kirchberg das neue Album verstanden wissen, als »Verbeugung« vor dem Hamburger Dichter Hans Leip; und das ist es zweifellos. »Lili Marleen« ist Leips wohl bekanntester Text, 1915 schrieb er ihn, als 22-Jähriger; seine eigene Melodie dazu kennt aber fast niemand. Die Musik, die fast jeder und jede »auf den Latschen pfeifen« kann, stammt vom Komponisten Norbert Schultze. Kirchberg hat nun noch die eigene musikalische Version »draufgesetzt«; und das ist nur der Einstieg in eine hinreißende, live aufgenommene CD mit – vom Sänger selbst – höchst sensibel vertonten und interpretierten Leip-Texten. Für die Jury: Petra Schwarz

Folk und Singer/Songwriter

Gudrun Walther & Andy Cutting: Conversations

Artes Records ARCD 6040 (Galileo)

Auf Augenhöhe begegnen sich hier deutsche und englische Folkmusik, vertreten durch Gudrun Walther und Andy Cutting, die beide renommierte Vertreter ihrer Länder mit einer ganzen Menge Erfahrung im Gepäck sind. In purer Feinheit werden musikalische Linien von Fiddle und Akkordeon geschickt verwoben, sodass ein differenziertes Gebilde entsteht, das Zuhörerinnen und Zuhörern immer wieder die Möglichkeit für Neuentdeckungen bietet. Der klare Gesang ergänzt die groovigen Tanzmelodien, die sofort in die Hüfte gehen. Die hervorragende Qualität von Aufnahme und Mix im Artes Studio von Jürgen Treyz ermöglicht ein völliges Eintauchen in die Musik. Was für ein beeindruckendes Meisterwerk! Für die Jury: Sabrina Palm

Pop

Róisín Murphy: Hit Parade

CD/LP/Digital, Ninja Tune ZEN290 (Rough Trade)

Ein Album voll tiefgründiger Täuschungen – kein Song ist einfach nur er selbst. In Zusammenarbeit mit DJ Koze konterkariert die irische Sängerin Róisín Murphy jede gradlinige Song-Idee und entfaltet unter der Oberfläche eingängiger Melodien ein Wimmelbild voller Alternativkonzepte und Störgeräusche. Was sich aufs erste Ohr wie einzelne Lieder ausnimmt, setzt sich in Wirklichkeit aus einer Vielzahl von Song-Fragmenten zusammen. Mit beeindruckender Effizienz und sparsam eingesetzten gestalterischen Mitteln erzielen Murphy und Koze den größtmöglichen Effekt. Man kann das Album hören, so oft man will – es ist jedes Mal ein komplett anderes Erlebnis. Für die Jury: Wolf Kampmann

Rock

Teenage Fanclub: Nothing Lasts Forever

CD/LP, PeMa PEMA20 (Rough Trade)

Von wegen: Nichts hält ewig. Dieses (zwölfte) Album der 1989 in Glasgow gegründeten Band widerspricht seinem Titel mit feiner Ironie und ausgefeilter Dialektik. Unaufgeregt und abgeklärt führt es ein Konzept fort, das von Anfang an seine Inspiration aus Gesangsharmonien und Folkrock-Gitarren der Sechziger, von Bands wie The Byrds oder Big Star bezog, ohne je im Nostalgierock zu landen. Die zehn Stücke dieses Albums halten eine feine Balance zwischen Melancholie und Hoffnung, zwischen Licht und Schatten (drei Songs haben das Wort »Light« im Titel) und wirken dabei in den besten Momenten wie ein Wellnessprogramm für unruhige Zeiten. Für die Jury: Manfred Gillig-Degrave

Hard und Heavy

Sulphur Aeon: Seven Crowns And Seven Seals

CD/LP/Digital, Ván Records VAN 370 (Soulfood)

Äußerst selten gelingt es einer Band aus Deutschland, mit einer eigenwilligen, innovativen Klangsprache international Aufsehen zu erregen, wenn auch, zugegeben, größtenteils noch innerhalb vom Genre-Kosmos. Sulphur Aeon gelingt dies mit dem vierten Album scheinbar mühelos. Das Quintett aus Nordrhein-Westfalen, einst im klassischen Death-Metal-Outfit gestartet, hat hier eine kongeniale Vertonung des Pulp-Universums von H.P. Lovecraft vorgelegt, reich an Nuancen wie an musikhistorischen Referenzen, von Morbid Angel bis hin zu Pink Floyd, vorgetragen mit beinahe beängstigender phantasmagorischer Wucht. Bleibt nur die Frage offen: Was soll auf dieses Großwerk noch folgen? Für die Jury: Thorsten Dörting

Club und Dance

Sofia Kourtesis: Madres

CD/2 LPs/Digital, Ninja Tune ZEN292 (Rough Trade)

Dezent und druckvoll, eigen, herauf- und hinabtauchend, verschwommen und verspielt – das Debütalbum der peruanischen Producerin Sofia Kourtesis handelt von Müttern, von Rettung, von Hingabe, von Schmerz. Hinter dem Track »Vajkoczy« verbirgt sich darüber hinaus eine Geschichte von großer Angst um einen geliebten Menschen, einem fast märchenhaften Instagram-Aufruf und einem Berliner Neurochirurgen. Das Album rangiert zwischen Loslassen-wollen (»Madres«) und nahezu erstarrtem, melancholischem Rückzug (»Moving Houses«), ist dabei aber immer warm, nah(bar) und tief. Für die Jury: Nastassja von der Weiden

Electronic und Experimental

Tonn3rr3 x Bikay3: It’s A Bomb

Digital, Born Bad Records BB169 (Cargo)

Ob »Noir et Blanc«, Bony Bikayes vor vierzig Jahren erschienene Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Multi-Instrumentalisten Hector Zazou und dem Klangtüftler CY 1, als Vorläufer der »Congotronics« gelten kann? Bikaye gehört in jedem Fall zu den Künstlern, die das Genre der »Global electronica« mitbegründeten. »Itʼs a Bomb«, die aktuelle kulturübergreifende Zusammenarbeit zwischen dem Sänger und dem französischen Trio Tonn3rr3, mixt kongolesische Rumba mit mythologischen Erzählungen, lässt mutierende Afrosounds auf elektronische Experimente treffen. Ihre Kommunikation ist grenzenlos und erschafft einen – so die Künstler – elektronischen Dschungel. Für die Jury: Jean Trouillet

Blues

The Bluesanovas: Big Love

CD/LP, Timezone Records TZ 2456 (Timezone Distribution)

Sie sind jung und traditionsbewusst, entstammen zum Teil der so lebendigen Osnabrücker/Münsteraner Bluesszene und spielen Blues, Boogie und Rockʼn’Roll. Spätestens seit den internationalen Auftritten im Vorprogramm von Eric Clapton sind The Bluesanovas kein allzu neues Phänomen mehr. Und ihr Album »Big Love« transportiert genau das: die Liebe zu dieser Musik. Haben die fünf Bluesanovas den Blues also neu erfunden? Rein musikologisch natürlich nicht, doch ihre Authentizität und gelebte Spielfreude machen immer wieder neugierig – auf den Blues und auf The Bluesanovas. Für die Jury: Tim Schauen

R&B, Soul und Hip-Hop

Joy Denalane: Willpower

CD/LP, Four Music Productions 19658842502 (Sony)

Viele stilprägende Soul-Sängerinnen leben nicht mehr. Da ist es ein gutes Gefühl, wenn deren Vermächtnis ebenbürtige Neuinterpretationen erfährt. Und die Geschichte weitergeschrieben wird – genauso gelebt, empfunden und via Seele transportiert wie im Fall von Joy Delanane. Soul Music, vom realen Leben oder Fiktion geprägt, ist immer ein Ausdruck des Herzens. Ob es um Trauer, Loslassen, Freiheit, oder eben die eigene »Kraft des Willens« geht. Joy hat mit »Willpower« ihr bisher reifstes und künstlerisch offenstes Album aufgenommen, inklusive brillianten Jazzeinflüssen. Und ihre Stimme klingt immer besser. Für die Jury: Michael Rütten

Wortkunst

Jahrhundertstimmen 1945-2000

Deutsche Geschichte in über 300 Originalaufnahmen. Hrsg. v. Hans Sarkowicz, Ines Geipel, Ulrich Herbert, Michael Krüger, Christiane Collorio. 4 mp3-CDs, der Hörverlag ISBN 978-3-8445-4902-7 (Penguin Random House)

Ein Jahrhundert zum Klingen zu bringen – das gelingt der Edition »Jahrhundertstimmen« hervorragend. Nach dem ersten Teil, der die Jahre 1900 bis 1945 umfasst, ist nun der zweite erschienen, der die Jahre 1945 bis 2000 spiegelt. Die über 400 Originalton-Aufnahmen aus Politik, Gesellschaft, Sport und Kultur umfassen Reden, Reportagen und Interviews. Sie werden von Hans Sarkowicz, früher Kulturchef beim Hessischen Rundfunk, jeweils eingeleitet und von Ines Geipel, Ulrich Herbert und Michael Krüger kenntnisreich eingeordnet. Ein ausführliches, reich bebildertes Begleitbuch rundet die ausgezeichnete Produktion ab. Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg

Kinder- und Jugendaufnahmen

Robert M. Sonntag: Die Scanner

Omid-Paul Eftekhari. mp3-CD, derDiwan Hörbuchverlag ISBN 978-3-949840-26-5

Robert M. Sonntag (alias Martin Schäuble) skizziert im Near-Future-Thriller »Die Scanner« ein hochdigitalisiertes 2035, in dem das Lesen von Büchern ein Verstoß gegen das System ist. »Die Scanner« verdeutlicht, wie nah schon eine Wirklichkeit ist, in der wir durch »Mobrills« im Ultranetz unser Intimstes der Öffentlichkeit preisgeben – gesteuert von einem Megakonzern, der mehr Macht hat als die Politik und vorgaukelt, alles Wissen sei papierlos verfügbar. Gelesen wird diese packende Geschichte von Omid-Paul Eftekhari, der angenehm in den Hintergrund zu treten versteht, damit die Geschichte mit ihren Figuren voll zur Geltung kommt. Für die Jury: Helen Seyd

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