Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Mahler: Symphonie Nr. 6

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6. Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Simon Rattle. BR Klassik 900217 (Naxos)

Simon Rattles vierte Einspielung der Sechsten Symphonie ist zweifelsohne die Krönung seiner langjährigen Mahler-Exegese. Mit glühender Intensität und Leidenschaft ist ihm eine Referenzaufnahme dieser »wüsten, wild herausfahrenden« Symphonie, einem Werk der Tragödien und Konflikte, voll dramatischer Ausbrüche und großer Farbenvielfalt, gelungen. Die BR-Symphoniker gestalten die grandiose Klang- und Geräuschlandschaft atemberaubend und werden dabei durch eine exzellente Aufnahmetechnik unterstützt. Für die Jury: Peter Stieber

Orchestermusik und Konzerte

Strawinsky, Bartók, Martinů: Werke für Violine & Orchester

Igor Strawinsky: Violinkonzert in D, Béla Bartók: Rhapsodien Nr. 1 & 2, Bohuslav Martinů: Suite concertante, Méditation. Frank Peter Zimmermann, Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša. SACD, BIS Records BIS-2657 (Klassik Center)

Selten hat man Strawinskys Violinkonzert mit so viel Verve und rhythmischer Prägnanz, gleichzeitig aber auch so klangschön gehört wie in dieser Aufnahme. Nicht weniger mitreißend kommt das folkloristische Idiom in Béla Bartóks Violin-Rhapsodien zum Ausdruck. Frank Peter Zimmermann hat seine besondere Affinität zur Musik von Bohuslav Martinů bereits in einer Aufnahme der beiden Violinkonzerte mit den Bamberger Symphonikern und Jakub Hrůša erkennen lassen. Auch ihre Interpretation der kaum bekannten Suite concertante ist ein flammendes Plädoyer für diesen immer noch unterrepräsentierten Komponisten. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

Grieg, Smetana: Streichquartette

Edvard Grieg: Streichquartett Nr. 1 op. 27, Bedřich Smetana: Streichquartett Nr. 1 »Aus meinem Leben«. Quatuor Modigliani. Mirare MIR682 (harmonia mundi/Bertus)

Vielleicht braucht es Interpreten wie das Quatuor Modigliani, um die Bedeutung von Griegs Streichquartett in g-Moll in seinem vollen Umfang zu erfassen. In dieser fantastischen Aufnahme steht das im Konzertleben viel zu stiefmütterlich behandelte Werk unter Hochspannung, man spielt hochemotional und mit brennender Leidenschaft. Dass die vier Franzosen dabei klanglich außerordentlich subtil vorgehen, erhöht den Hörgenuss noch einmal erheblich. Die Begegnung mit Smetanas ebenfalls grandios ausgelotetem Seelendrama in e-Moll ist eine auf Augenhöhe. Für die Jury: Bernhard Hartmann

Kammermusik

»Take 3«

Werke für Violine, Klarinette & Klavier von Francis Poulenc, Paul Schoenfield, Béla Bartók, Șerban Nichifor. Patricia Kopatchinskaja, Reto Bieri, Polina Leschenko. Alpha Classics ALPHA 772 (Naxos)

Auf der Suche nach den unsauberen Klängen und knirschenden Rhythmen nehmen Patricia Kopatchinskaja, Reto Bieri und Polina Leschenko mit auf eine Reise in ihre Erinnerungen. »Take 3« ist eine Begegnung. Einerseits von drei exzellenten, eigenwilligen Musikern. Andererseits von drei Komponisten, die auf dem Seil zwischen Humor und Hoffnungslosigkeit Walzer tanzen. Diese Aufnahme unterhält und bewegt vom ersten Ton an. Sie hat Charakter und erlaubt einen Blick auf die Welt durch die Unentschlossenheit, das Zögern, den Mut in der Musik. Drei Stühle, mehr braucht es nicht. Für die Jury: Ida Hermes

Tasteninstrumente

Hamelin: Klavierwerke

Marc-André Hamelin: Paganini-Variationen, Barcarolle, Pavane variée, Chaconne, Toccata on L’homme armé, Suite à l’ancienne, Variation diabellique sur des thèmes de Beethoven, My feelings about chocolate, Meditation on Laura. Marc-André Hamelin. Hyperion CDA68308 (Note 1)

Marc-André Hamelin, Supervirtuose und komponierender Pianist, hat sich als Interpret nicht nur in enzyklopädischer Genauigkeit das bekannte und weniger bekannte Klavierrepertoire erarbeitet, sondern geht auch kompositorisch spielend damit um. Barocke Gattungen füllt er mit neuen Inhalten, die die Grenzen der Tonalität ausweiten, sie aber nicht verlassen. Seine Paganini-Variationen bereiten intellektuelles Vergnügen und stehen gleichberechtigt neben großen Vorgängern. Und Beethovens gewaltige Diabelli-Variationen auf eine Miniatur zu schrumpfen, verrät etwas über Hamelins Humor. Für die Jury: Gregor Willmes

Tasteninstrumente

Gordon Sherwood: Orgelwerke

Kevin Bowyer. Sonus Eterna 37423 (JPC)

Gordon Sherwood zählt zu den großen Solitären der Musikgeschichte. Sein Schaffen steht zwischen allen Stilen und Konventionen, auch wenn es einige Fix- und Anknüpfungspunkte gibt. Nirgendwo wird das deutlicher als in seinen Orgelwerken. Die Bewunderung für Bach ist deutlich hörbar, aber es ist eben doch typisch Sherwood, was der britische Organist Kevin Bowyer auf CD gebannt hat. Bowyer ist auch hier wieder mal der Richtige, wenn es darum geht, Seltenes, Kurioses, gar Abseitiges aus der Versenkung zu holen. Auch er ist ein Solitär, der die Orgelwelt mit außergewöhnlichen Aufnahmen wie dieser enorm bereichert. Für die Jury: Guido Krawinkel

Oper

Élisabeth Jacquet de La Guerre: Céphale et Procris

Ema Nikolovska, Déborah Cachet, Lore Binon, Gwendoline Blondeel, Marc Mauillon, Lisandro Abadie, Samuel Namotte, Chœur de Chambre de Namur, a nocte temporis, Reinoud van Mechelen. 2 CDs, Château de Versailles Spectacles CVS119 (Naxos)

Erneut ist hier das Werk einer zu Unrecht vergessenen Komponistin ans Tageslicht gefördert worden. Elisabeth Jacquet de La Guerre (1665-1729), die sich als Fünfjährige auf dem Cembalo die Gunst des Sonnenkönigs erklimperte, war die erste Frau, die mit einer Tragédie lyrique Einlass in die exklusive Académie royale de musique fand. Das 1694 uraufgeführte Werk folgt formal der von Lully geschaffenen Gattungsnorm, doch die Komponistin zeigte auch Mut zu einem frischen, persönlichen Tonfall. In der klanglich abgerundeten Aufnahme kommen die Qualitäten dieses Fundstücks glänzend zur Entfaltung. Für die Jury: Max Nyffeler

Oper

Louise Bertin: Fausto

Karine Deshayes, Karina Gauvin, Ante Jerkunica, Nico Darmanin, Marie Gautrot, Diana Axentil, Thibault de Damas, Les Talens Lyriques, Flemish Radio Choir, Christophe Rousset. 2 CDs, Bru Zane BZ 1054 (Naxos)

Louise Bertin (1805-1877) komponierte auf ein eigenes Libretto die erste Oper über den Faust-Stoff. Uraufgeführt wurde das Werk 1831 in Paris, im gleichen Jahr wie Giacomo Meyerbeers »Robert le Diable«, dem Bertins Werk in seinem italienisch-französischen Mischstil und in seiner Phantastik stark ähnelt. Christophe Rousset leitet diese Ersteinspielung des Werks mit dem Originalklangorchester Les Talens Lyriques. Karine Deshayes singt die für Mezzosopran konzipierte Hauptrolle. Wer das Werk hört, muss feststellen: Dass Bertin bald danach das Komponieren von Opern aufgab, ist ein musikgeschichtlicher Verlust. Für die Jury: Robert Braunmüller

Chor und Vokalensemble

»Elements«

Werke von Jacobus Clemens non Papa, Orlando di Lasso, Thomas Morley, William Byrd, Carlo Gesualdo, Johannes Brahms, Max Reger, Stefan Heucke u.a.. Kölner Vokalsolisten. Genuin Classics GEN 24857 (Note 1)

Der Titel der CD und mit ihm die Idee eines a-cappella-Programms rund um die vier Elemente entbehrt nicht einer gewissen Willkür, doch die Kunst der Kölner Vokalsolisten ist darüber erhaben. In »Elements« zelebriert das mit zwei Sopranen klanglich höhergelegte Sextett die hohe Kunst des Gebens und Nehmens wie der feinen Stimmverschmelzung – und beweist bei Werken vom 16. bis zum 21. Jahrhundert beeindruckende stilistische Flexibilität. Für die Jury: Susanne Benda

Klassisches Lied und Vokalrecital

»Reflet«

Orchesterlieder von Hector Berlioz, Henri Duparc, Charles Koechlin, Claude Debussy, Maurice Ravel, Benjamin Britten. Sandrine Piau, Orchestre Victor Hugo, Jean-François Verdier. Alpha Classics ALPHA 1019 (Naxos)

Schon die erste Begegnung mit dem Orchestre Victor Hugo und Jean-François Verdier mit Liedern von Zemlinsky, Berg und Strauss 2021 war ein helldunkel schimmernder Glücksfall. Nun lässt die Sopranistin Sandrine Piau Preziosen aus der Werkstatt von Berlioz, Debussy, Duparc, Ravel, Koechlin sowie dem 14-jährigen Hugo- und Verlaine-Fan Britten folgen. »Reflet« ist zugleich frankophoner Widerschein der deutschsprachigen Auswahl, farbschwebender Glanz, spielerische Reflexion. Ein Statement von betörender Eleganz, perfekt temperiert, durch innere Reife, freien Atem und einen erfahrungsklugen siebten Klangsinn beseelt. Für die Jury: Albrecht Thiemann

Alte Musik

»Lost Majesty«

George Jeffreys: Sacred Songs and Anthems. Solomon’s Knot. 2 CDs, Prospero PROSP0086 (Note 1)

Wie kein anderer Komponist seiner Zeit setzte sich George Jeffreys (ca. 1610 bis 1685) für die Etablierung der »seconda prattica« in England ein, was sich in ausschweifenden Melodiebögen und expressiven Dissonanzen äußert. Die zahlreichen geistlichen Anthems und Motetten weisen ihn zudem als wichtiges Bindeglied zwischen Byrd und Purcell aus. »Lost Majesty«, ein leidenschaftliches, rundum überzeugendes Plädoyer für diesen vergessenen Komponisten, wird von Solomon’s Knot mit etwas mehr Vibrato und individuellerem Timbre gesungen, als man es von anderen englischen Vokalensembles kennt. Das aber passt gut zu der italienischen Madrigaltradition, an die Jeffreys anknüpft. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Harry Vogt, Martina Seeber (Hrsg.): Radio Cologne Sound

Das Studio für Elektronische Musik des WDR. Werke von Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis, Marco Stroppa, Youngi Pagh-Paan, Nicolaus A. Huber, York Höller u.a.. Buch mit 5 CDs, Wolke Verlag ISBN 978-3-95593-259-6

Ein großer Wurf: Auf 288 Seiten und mit 28 Originalaufnahmen wird das legendäre Elektronik-Studio des WDR in Köln, das erste seiner Art, von der Gründung 1951 bis zur Jahrtausendwende porträtiert. Die Technik mag überholt sein, nicht aber der Wert der Ergebnisse. Hier wurde Musikgeschichte geschrieben. Zwar ist ein Weiterleben grundsätzlich gesichert, wo in Köln und wie konkret steht jedoch weiterhin nicht fest. So kommt diese Edition auch politisch zur rechten Zeit. Sie dokumentiert auch eindrucksvoll die herausragende Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die Entwicklung der Musikkultur. Für die Jury: Marco Frei

Historische Aufnahmen

Edward Power Biggs

plays Historic Organs of Europe (Columbia Recordings 1961-1970). Edward Power Biggs. 6 CDs, Sony Classical 19658826772

Eine Orgelreise durch Europa auf sechs LPs – in den 1960er-Jahren war das weitgehend Neuland, vor allem mit der Konzentration auf die Orgelmusik bis Bach, Telemann oder Dandrieu. Gerade die kleinen, wenig bekannten Instrumente in der Schweiz, Spanien, Italien, Frankreich, England, den Niederlanden und Norddeutschland erkundet Edward Power Biggs liebevoll, in sorgfältig zusammengestellten Programmen, die nun mit großer Sorgfalt für die CD-Veröffentlichung aufgearbeitet worden sind und liebevoll ausgestattet präsentiert werden. Für die Jury: Jürgen Schaarwächter

Grenzgänge

Adam Bałdych & Leszek Możdżer: Passacaglia

ACT 9057-2 (Edel)

Auf ihrem ersten, lange erwarteten Duo-Album streifen sie mit Virtuosität und Verve durch europäische Klanglandschaften: der Geiger Adam Bałdych und der Pianist Leszek Możdżer. Sie zählen beide zu den prominentesten Jazzmusikern Polens, haben beide einen Background in der klassischen Tradition und streben beide zugleich nach zeitgenössischem Ausdruck. Das gelingt ihnen hier mit eigenen Stücken und Improvisationen, inspiriert von überlieferten Formmodellen, wie auch mit dem Rückgriff auf Kompositionen vergangener Epochen, die sie in faszinierend neuer Klanggestalt aufleuchten lassen. Für die Jury: Bert Noglik

Filmmusik

Jerskin Fendrix: Poor Things

(Original Motion Picture Soundtrack) Digital, Hollywood Records G010005154486V (Sony)

Dem jungen Songwriter und Musiker Jerskin Fendrix ist mit seinem ersten Score für einen großen Film direkt ein Geniestreich gelungen. Sein Stil überzeugte Regisseur Giorgos Lanthimos, der deswegen zum ersten Mal mit seinem Prinzip bricht, einen Soundtrack aus bestehender Klassik zu nutzen. Fendrix zeigt nicht nur Mut zum Experiment, seine Musik klingt noch sehr nah an Stilistik und Inhalt der Bilder. Instrumente werden verfremdet und höher gepitched. An ihnen wird »operiert« genau wie an Bella, der Filmprotagonistin, die durch medizinische Experimente zu neuem Leben erweckt wird. Für die Jury: Malte Hemmerich

Musikfilm

The Greatest Night In Pop

Lionel Richie, Michael Jackson, Quincy Jones, Bruce Springsteen, Prince, Bob Dylan, Stevie Wonder, Harry Belafonte, Diana Ross, Tina Turner u.a., Regie: Bao Nguyen. Stream, Netflix 81720500

1985 fanden die bedeutendsten Popstars zu einem spektakulären Benefizprojekt zusammen. Sie nahmen den von Lionel Richie und Michael Jackson komponierten Song »We are the world« auf. Aus 46 sehr individuellen Künstlerinnen und Künstlern wird ein Kollektiv. In nur einer Nacht bringen sich die Beteiligten mit ihren besten Fähigkeiten ein. Lionel Richie und Quincy Jones halten das Team bewundernswert zusammen, ermuntern, stärken die Motivation. Der Film fängt den Geist, den Drive und die humanitäre Kraft des Unternehmens ein. Ein mitreißendes Lehrstück über die integrative und solidarische Kraft der Musik. Für die Jury: Helge Grünewald

Artwork © Netflix / The Greatest Night in Pop

Jazz

Yes! Trio: Spring Sings

Jazz&People JPCD824001 (harmonia mundi/Bertus)

In der kleinen Einheit des Jazz musizieren die drei Musiker seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Und aus der großen Zahl der Piano-Trios ragt das Yes! Trio heraus durch seinen Respekt vor der Tradition des Jazz, vor allem des Bebop, mit der Liebe für den Swing, die unterschiedliche musikalische Hintergründe wunderbar zusammenführt. Das Trio spielt Kompositionen des Schlagzeugers Ali Jackson und des Pianisten Aaron Goldberg, gruppiert um zwei Standards von Cy Coleman und Irving Berlin. Getragen wird diese Beschwörung der Tradition von einem wunderbaren gemeinsamen Atem. Für die Jury: Lothar Jänichen

Jazz

Vijay Iyer, Linda May Han Oh, Tyshawn Sorey: Compassion

ECM Records 2760 (Universal)

Erstmals spielen sie zusammen – der amerikanische Pianist Vijay Iyer, Bassistin Linda May Han Oh und Schlagwerker Tyshawn Sorey. Welch ein überbordendes Schwärmen, Ringen und Sich-Reiben – das ist fast schon telepathische Kommunikation. Das Trio bewegt sich kraftvoll, mit besonderer Elastizität und einer gewissen Schärfe durch Kompositionen voller ungerader Metren. Vijay Iyer kommentiert selbst – die Stücke transportieren »das Gefühl des Unbehagens oder der Angst. Es ist eine Stimmung, eine Tönung, die über allem liegt. Es gibt viel Nachdenkliches, Kantiges auf dem Album, aber eben auch viel Zärtlichkeit.« Für die Jury: Guenter Hottmann

Weltmusik

Lina: Fado Camões

CD/LP, Galileo Music Communication GMC106 (Galileo)

Die Fado-Sängerin und Komponistin Lina nutzt für das Album »Fado Camões« Verse des portugiesischen Nationaldichters Luís Vaz de Camões. Der hatte im 16. Jahrhundert mit dem Epos »Lusíadas« so etwas wie die Odyssee Portugals geschrieben. Seine Sonette und Gedichte entsprechen in der Struktur einer klassischen Fado-Melodie. Lina hat so die literarische und musikalische Tradition Portugals zusammengefügt und in eine gemeinsame, zeitgemäße Form gegossen. Der englische Gitarrist und Produzent Justin Adams sorgt mit einer transparenten, zurückhaltenden Instrumentierung dafür, dass auf den Liedern keine Patina lastet. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Traditionelle Ethnische Musik

Aga Khan Master Musicians: Nowruz

Smithsonian Folkways Recordings SFW40497 (Galileo)

Seit 2013 spielen die Aga Khan Master Musicians die Musik des Nahen Ostens in ungewöhnlicher Besetzung: mit Pipa, Saxophon, Kanun, Dotar, Rahmentrommel, Viola d’amore und einem Zwitter aus Klarinette und Duduk. Und die Musikerinnen und Musikern, unter ihnen Prominenz wie Wu Man, kennen die Grenzen zwischen traditioneller orientalischer Klangwelt, Jazz und westlicher Klassik; sie überschreiten sie gezielt, aber sanft. Das obertonreiche Spiel der Viola entzückt neben der perlenden Kanun, das Saxophon brilliert melismatisch, und am Ende vereinigt sich das Ensemble zum titelgebenden Neujahrsfest: feinnervig und nuancenreich. Für die Jury: Stefan Franzen

Liedermacher

Stoppok: Teufelsküche

Glitterhouse Records 4015698958508 (Indigo)

Stoppoks volksnahen Gesang samt taffem Band-Sound nicht zu kennen, gilt längst als Bildungslücke. Einprägsam sind zudem immer seine griffigen Texte, selbst wenn der Folk-Rock-R&B-Crack »Im Wartesaal zum großen Glück« ganz unveralbert zitiert, diese Schlager-Schnulze der 50er Jahre, oder wenn er in »Vom Tod kein Wort« salopp zu »Da Da Da« abbiegt. Zeitlos Schräges wie »Klugscheißeralarm« gehört eh zu Stoppoks epischer Hausnummer. Überdies bleibt der Wahl-Bayer Kollegialem zugetan – heuer sind u.a. Alin Coen, Cäthe, Olli Schulz, Fortuna Ehrenfeld die Gäste im Fegefeuer von Stefan Stoppoks 11-Sterne-Album-Menü »Teufelsküche«. Für die Jury: Jochen Arlt

Folk und Singer/Songwriter

Rant: Spin

CD/Digital, Make Believe Records MBR 12CD (Direktvertrieb)

Die Fakten: Vier profilierte schottische Fiddlerinnen spielen seit zehn Jahren zusammen und veröffentlichen nun ihre vierte CD mit Melodien, die sie in ihrer Jugend inspiriert hatten. Dabei geht es aber nicht um das pure Nachspielen der Stücke, es geht nicht einmal um besonders pfiffige Arrangements, obwohl Rant diese Kunst perfekt beherrschen. Sie wollten »genau den kurzen Moment finden, der uns Schmetterlinge im Bauch bereitete, als wir die Stücke das erste Mal hörten.« Das ist überzeugend gelungen: abwechslungs- und einfallsreich, locker und entspannt klingend und trotzdem komplex – Fiddlemusik vom Feinsten! Für die Jury: Mike Kamp

Rock

Vera Sola: Peacemaker

City Slang SLANG50552 (Rough Trade)

Dass sich neue Künstlerinnen nicht an aktuellen Erfolgsmodellen orientieren, ist an sich schon ein Ereignis. Über die »Bandcamp«-Plattform kam das Debüt »Shades« zustande und über »City Slang« das Zweitwerk »Peacemaker«: Vera Sola, Tochter von Schauspieler Dan Aykroyd, präsentiert persönliche, raffiniert-stimmungsvolle und dunkel-dramatische Rachesongs mit einer Band der Superlative; denn auch Elvis Perkins und Anthony Da Costa sind profilierte Songwriter. Handwerk und Inspiration verbinden sich filigran und wuchtig, aber auch voll emotionaler Verletzlichkeit. »File under rock«? Die Musik von Vera Sola ragt darüber hinaus. Für die Jury: Christine Heise

Hard und Heavy

Chapel Of Disease: Echoes Of Light

CD/LP/Digital, Ván Records VAN 379 (Soulfood)

Bei aller Qualität: Auf dem Debütalbum »Summoning Black Gods« von 2012 waren Chapel Of Disease lediglich eine Death-Metal-Band. Heute, zwölf Jahre später, sind sie sehr viel mehr – auf »Echoes Of Light« negieren die Kölner zwar keineswegs die eigene Vergangenheit, sie bedienen sich aber links wie rechts, oben wie unten; sie verweben Gothrock-Kühle mit warmen Progressive-Rock-Sounds im Sinne der Siebziger Jahre, sie evozieren die Schwärze anspruchsvollster Black-Metal-Kollegen und spielen sich nur Momente später wieder ins Licht. Denn wenn die Hoffnung schon stirbt, stirbt sie zumindest zuletzt. Für die Jury: Boris Kaiser

Alternative

Marika Hackman: Big Sigh

CD/LP, Chrysalis Records BRVC 106 (Cargo)

Marika Hackman singt Lieder, die in den intensivsten Momenten vom stillen und leidenschaftlichen Widerstand gegen die Welt und das Alleinsein erzählen. Aber die Britin ist nicht allein: weil sie sich mit klassischem Gitarrenpop begleiten kann und weil sie zu einer Gruppe jüngerer Musikerinnen gehört (wie Adrienne Lenker, wie die deutsche Katharina Kollmann alias Nichtseattle), die Songs wie Skizzen anlegen, in denen sich das Bild dieser Welt, in der wir leben und lieben nach und nach in seiner ganzen Größe zeigt. »Big Sigh« ist Hackmans fünftes Album. Es das beste zu nennen, würde den vier davor nicht gerecht werden. Für die Jury: Tobias Rüther

Club und Dance

Seven Davis Jr.: Stranger Than Fiction

Digital, Secret Angels SAR007 (Direktvertrieb)

Im Zweifel für House – der Produzent Seven Davis Jr. verlässt sich seit jeher auf die Regeln des Genres mit programmierter Viererbassdrum und dazwischen aufzischenden Hi-Hats. Doch da eine Formel allein nicht glücklich macht, geht er die nötigen Feinheiten mit der gebotenen Unsauberkeit an. Das kann ein leicht verschleppter Beckenschlag sein, ein flummiartig aufschlagender Beat oder eine scheinbar außer Kontrolle geratene Orgel. Die Verwandtschaft zum Soul betont er durch seinen Gesang, wie um etwaige Vorurteile über »kalte« Maschinenmusik zu zerstreuen. So entsteht eine Feier des Lebens, die ansteckt. Für die Jury: Tim Caspar Boehme

Electronic und Experimental

Jan Bang: Reading The Air

CD/LP/Digital, Jazzland Recordings 3779473 (Edel)

Es ist eine Art »nordischer Americana«: die Glocke einer Holzkirche im Schnee, gedämpfte Trommeln, eine leicht gezupfte Gitarre, blubbernde elektronische Strukturen und immer die Stimme und Tasteninstrumente von Jan Bang. All das fügt sich zum schwebenden, geschmackvoll ausbalancierten Electronic-Crossover. Mit dabei sind Langzeitpartner wie Gitarrist Eivind Aarset, Trompeter Arve Henriksen oder Soundproduzent Erik Honoré. Ist das Jazz, ist das Kammerpop in sphärischem Mix? In jedem Fall ruht dieses Album in einem kontemplativen Raum: mit Meditationen über Verlust und Vergänglichkeit, aber voller Hoffnung und Versöhnung. Für die Jury: Olaf Maikopf

Blues

JJ Grey & Mofro: Olustee

CD/LP, Alligator Records AL 5018 (Bertus)

Kaum eine US-Band deckt die musikalischen Facetten des Südens derzeit so authentisch und elegant ab wie diese. Von leidenschaftlichem Gesang mit gospeliger Inbrunst bis zu staubtrockener Coolness, rifforientiertem Southern Rock, hitzigem Swamp-Funk und Memphis Soul reicht der Horizont. Und über allem schwebt der Blues. Alles ist erlaubt, auch Unübliches: Streicher, Orchesterparts, ein Trompetensolo. Die Bandbreite ist enorm. Am Ende aber runden sich die elf kleinen Meisterwerke auf wundersame Art zu einem großen. Olustee ist das zehnte Album der Band; ihr bislang vielfältigstes, vermutlich auch ihr bestes. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

The Color Purple

(Music From And Inspired By). Halle Bailey, Phylicia Pearl Mpasi, Corey Hawkins, Danielle Brooks, Fantasia Barrino, Alicia Keys u.a., The Color Purple Ensemble. Digital/2CDs/3LPs, Watertower Music 39156702 (Rough Trade)

Soundtracks sind oft nur mehr oder weniger lieblos hinterhergeworfene Song-Bündel – mit dem Nährwert des Popcorns in der Riesenpappe. Diese 37-Songs-Langstrecke ist die tiefschürfende Ausnahme mit sofortigem Stammplatz im Team klassischer Kinofilmbegleiter wie »Shaft«, »Purple Rain«, »Super Fly«, »Beat Street« und »Black Panther«: 18 Tracks, die das Schauspielensemble in der filmischen Neuauflage interpretiert, ergänzt von 19 Titeln »Inspired by«, entstanden also an der Schnittstelle, wo sich R&B, Soul und Contemporary Gospel respektvoll berühren. Trotz Länge gibt’s da keine Längen, sondern ganz großes Kino. Für die Jury: Torsten Fuchs

Wortkunst

Maxi Obexer: Im Auge des Sturms

Das Kapitol am 6. Januar 2021. Hörspiel. Mit Sabrina Ceesay, Claudius Steffens, Victoria Trauttmansdorff, Hans Gerd Kilbinger, Glenn Goltz, Enno Kalisch, Friederike Linke, Mi Hae Lee, Regie: Gerrit Booms. Stream, WDR

Gegenstand des dokumentarischen Hörspiels von Maxi Obexer ist der Sturm auf das Kapitol in Washington, D.C. am 6. Januar 2021 durch Anhänger des abgewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Auf der Grundlage von Originaltonaufnahmen aus dem Inneren des Kapitols macht Obexer in ihrem Hörspiel den Kampf um die amerikanische Demokratie als eine sprachliche Auseinandersetzung hörbar. In ihren Reden und Stellungnahmen reflektieren die Abgeordneten über die Grundlagen des demokratischen Prozesses und geben gleichzeitig eine praktische Demonstration der Macht des Wortes in Krisenzeiten. Für die Jury: Michael Grote

Kinder- und Jugendaufnahmen

Klaus-Peter Wolf: Echt jetzt?

Felix und das wahre Leben. Hanno Koffler. mp3-CD, Argon Hörbuch ISBN 978-3-8398-4319-2 (Argon Verlag)

Bekannt als Autor der Ostfriesland-Krimis, ist Klaus-Peter Wolf auch ein erfolgreicher Kinder- und Jugendbuchautor. »Echt jetzt? – Felix und das wahre Leben« erzählt die Geschichte von Felix, der abwechselnd bei den getrennten Eltern lebt; die Mutter gut organisiert, der Vater chaotisch, ein erfolgloser Musiker. Und Felix mischt sich ein, vor allem beim Vater. Dessen Liebes-SMS an eine falsche Nummer schafft Unruhe – denn Felix behauptet, sie sei von ihm! Die folgenden Turbulenzen bewältigt Felix mit Einfallsreichtum und Witz. Wunderbar gelesen von Hanno Koffler, macht dieses Hörbuch nicht nur jungen Lesern Spaß. Für die Jury: Margit Hähner

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