Jahrespreise

Einmal jährlich trifft sich der Jahresausschuss des PdSK e.V., um zehn Jahrespreise für die besten Produktionen des zurückliegenden Jahres zu bestimmen. Im Jahresausschuss arbeiten zehn Jurorinnen und Juroren aus verschiedenen Fachjurys zusammen. Die Besetzung des Jahresausschusses rotiert. Die Nominierungen für evtl. Jahrespreise obliegen der Gesamtheit aller Jurorinnen und Juroren. Jahrespreise werden im Rahmen öffentlicher Konzertauftritte oder Literaturlesungen (im Bereich Wortkunst) an die Preisträger verliehen. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jedem Preisträgerjahrgang hinterlegt.

Jahrespreise

Le Concert Spirituel, Hervé Niquet

Joseph Bodin de Boismortier: Don Quichotte chez la Duchesse (Ballet comique en trois actes). Mathias Vidal, Jean-Gabriel Saint-Martin, Chantal Santon-Jeffery, Nicolas Brooymans, Camille Poul, Charles Barbier, Le Concert Spirituel, Hervé Niquet. Château de Versailles Spectacles CVS075 (Note 1)

Sie haben es wieder getan – und das ist unser Glück: Mit Joseph Bodin Boismortiers Don Quichotte-Lustbarkeit (Libretto: Charles-Simon Favart), einer rasanten Slapstick-Komödie aus dem Jahr 1743, hatten Hervé Niquet und Le Concert Spirituel erstmals die französische Alte-Musik-Szene aufgemischt. In Paris war das, September 1987. Während der Corona-Krise nahmen sich Chor und Ensemble den gut einstündigen Dreiakter ein zweites Mal vor, im leeren Theater zu Versailles – mit reiflicher Expertise, wirbelnder Lust und sechs wunderbaren Solo-Stimmen, die dieses Feuerwerk des kaum bekannten Zeitgenossen Rameaus und Bachs in knalligsten Farben funkeln lassen. Mini-Arien und burlesker Sprechgesang zünden im Minutentakt, dazu umwerfend rockende, herrlich schräg instrumentierte (Parodie-)Nummern (u. a. vier Fagotte!). Eine barocke Sketchparade, grell sprühend, von verschmitztem Wahnwitz, tanzbar turbulent, die ihren Zweck noch heute großartig erfüllt – als mitreißender Muntermacher wider den Trübsinn. Was für eine Entdeckung! Für den Jahresausschuss: Albrecht Thiemann

Christian Tetzlaff, Tanja Tetzlaff & Lars Vogt

Franz Schubert: Klaviertrios Nr. 1 D 898 & Nr. 2 D 929, Notturno D 897, Rondo D 895, Arpeggione-Sonate D 821. Christian Tetzlaff, Tanja Tetzlaff, Lars Vogt. 2 CDs, Ondine ODE 1394-2D (Naxos)

Für die Ewigkeit. Tanja und Christian Tetzlaff und Lars Vogt setzen für Franz Schuberts Klaviertrios ihre symbiotische Freundschaft aufs Spiel, so scheint es, um etwas Unerreichbares zu schaffen, das nur gemeinsam gelingen kann. Mit vollem Risiko und freigelegten Herzen teilen sie Puls und Angst und letzten Atemzug. Keine Phrasierung ist weniger als perfekt gesetzt, aber das Wunder ist dieses Durchströmtwerden, zu dem man sich als Zuhörerin und Zuhörer eingeladen fühlt. An freundlicher Hand, durch das Jetzt und Damals und Nie wieder, sich gemeinsam vorbereitend auf den endgültigen Abschied. Das Booklet bildet in Worten ab, was die Musik noch viel umfassender sagt. Kristallklar, anrührend zart, mitfühlend. Aber es bedingt das Wunder dieser Aufnahme nicht. Sie ist zugleich ein Schnappschuss dreier Ausnahmekünstler, ein Endlich und ein Gerade-noch. Welches Glück, eine erste Berührung, größte Liebe und den Moment des Entschwebens auf einer Aufnahme immer und immer wieder neu hören zu können. Für den Jahresausschuss: Julia Kaiser

London Brew

2 CDs/2 LPs, Concord Records 008880 72458697 (Universal)

Der aktuelle Jazz in London ist sehr vital und pulsierend. Akteure wie Shabaka Hutchings, Nubya Garcia oder Theon Cross bringen die dortige Szene zum Kochen und haben mittlerweile eine Ausstrahlung in die ganze Welt. Strotzend vor Selbstbewusstsein, ausgestattet mit einer verblüffenden Musikalität und einer großen stilistischen Bandbreite lässt sich diese Szene immer wieder auf neue Herausforderungen ein. So auch auf dieses London Brew-Projekt, dass sich nicht nur im Namen auf das epochale Doppel-Album »Bitches Brew« des Trompeters Miles Davis aus dem Jahr 1970 bezieht. Die eigens für dieses Projekt zusammengestellte Allstar-Band hat den Spirit von damals aufgesogen und bezieht sich unüberhörbar auf den musikalischen Kosmos von Davis. Hier wird aber keine Musik nachgespielt oder konserviert. Inspiriert von Loops und Samples aus dem Original entwickelt sich ein hochintensiver, eigenständiger Sound. Hypnotisierend, voller Feuer und unbändiger Energie. Es ist ein Vergnügen, diesen ausgedehnten Klangreisen zu folgen. Für den Jahresausschuss: Matthias Wegner

Monika Roscher Bigband

Witchy Activities And The Maple Death
CD/2 LPs, Zenna Records ZEN003CD (Membran)

Big Bands haben sich verändert. Aus den Unterhaltungsorchestern der Frühzeit sind stiloffene Klangfarbenensembles geworden, deren Ausdrucksspektrum weit über den engen Bereich der jazzenden Moderne hinausreicht. Die Big Band von Monika Roscher ist dafür ein ebenso brillantes wie zeitgemäßes Beispiel. Denn die Münchner Bandleaderin, Komponistin, Gitarristin und Sängerin greift auf orchestrale Opulenz ebenso zurück wie auf rockinspirierte Intensität. Sie erzählt musikalische Geschichten, lässt Klangphantasien schweifen und inspiriert ihr 2011 gegründetes und seitdem über alle Stressphasen weiterentwickeltes Ensemble zu improvisierender Präsenz, die mit ihrem dritten, selbst produzierten Album »Witchy Activities And The Maple Death« eine humorvoll zugespitzte künstlerische Reife entwickelt. Das ist Ensemblejazz auf Augenhöhe der Zeit und zugleich ein faszinierend stilbuntes Statement einer herausragenden Big Band. Für den Jahresausschuss: Ralf Dombrowski

Souad Massi

Sequana
CD/LP, Wrasse WRA 4817937 (harmonia mundi/Bertus)

Eine algerisch-französische Sängerin mit fantastischer Stimme und großer Musikalität ist die 1972 geborene Souad Massi. Ihr neues Album zeugt von einer starken Persönlichkeit, die sich nicht einengen lässt. Stilistisch vielfältig, irgendwo zwischen Nordafrika, bis zur Sahelzone, Südwesteuropa und Südamerika, mit einer Prise Rockmusik und amerikanischem Folk kommen die elf Songs daher. Diese Mischung ist unwiderstehlich und absolut befreiend. Souad Massi nimmt die Zuhörenden auf ihre Reise mit und stellt dabei relevante Fragen der Zeit. Die Texte in arabischer und französischer Sprache sind während der Pandemie entstanden und beschäftigen sich mit fundamentalen Problemen und Ängsten. Die kommen unmittelbar rüber, man kann sich dem nicht entziehen. Aber gleichzeitig erzeugen ohrwurmige Melodien eine Vertrauen schaffende Atmosphäre, die keinen allein lässt. »Sequana« ist ein intelligentes Album voller Feinheiten und grandioser Musik. Für den Jahresausschuss: Sabrina Palm

A.S.O.

LP/Digital, Low Lying Records LLR LP 001 (Direktvertrieb)

Es war einmal eine Zeit, da gab es in Clubs Chill-Out-Areas. Magische Zonen, in die man sich abseits des Dancefloors zurückziehen konnte, um die vom stundenlangen Tanzen ausgezehrten Körper weich auf Matratzen zu betten, einen Joint mit einem Fremden zu teilen und sich im Tempo des wabernden Rauches von einem ebenso trägen wie psychedelischen Sound einlullen zu lassen. Genau diese Zeit, Ende der 1990er, beschwören a.s.o. mit ihrem selbstbetitelten Debütalbum herauf. Als der in Berlin lebende Produzent Lewie Day, bekannt für seine discoiden Houseproduktionen als Tornado Wallace, auf die australische Sängerin und Songwriterin Alia Seror-O’Neill traf, sammelten sie ihre gemeinsame Liebe für Dream Pop, Shoe Gaze und Trip Hop zunächst in einer geteilten Playlist: Madonna in ihrer »Ray of Light«-Era, Enya, The Chemical Brothers, Primal Scream, Suzanne Kraft – in dieser Tradition stehend finden a.s.o. einen ebenso hypnotisierenden wie eigenständigen Sound und nehmen in unserer Gegenwart der Hyperbeschleunigung mutig das Tempo raus. Für den Jahresausschuss: Laura Aha

Lucrecia Dalt

¡Ay!
CD/LP, Rvng Intl. RVNGNL85 (Cargo)

Es gibt schlechtere Orte, an denen ein Wesen aus einer anderen Galaxie auf der Erde landen könnte, als auf dem Gipfel des Berges Galatzó auf Mallorca. Die Außerirdische Preta – verkörpert durch die kolumbianische Sängerin, Produzentin und Konzeptkünstlerin Lucrecia Dalt – erkundet diese für sie fremde Welt auf ihre Art: Sie leckt Steine ab, vermerkt in ihren Songtexten fast wissenschaftlich, dass es nach Ozon rieche, und tanzt mit einem Fremden bis die Sonne untergeht. Lucrecia Dalt erforscht auf »¡Ay!« die lateinamerikanische Musik ihrer Kindheit und kreiert nostalgische Sci-Fi-Folklore. Ihre kunstvollen Produktionen lassen sich dabei weder zeitlich noch regional klar verorten – ein kluger Trick, mit dem Dalt das Spektrum der Assoziationen erweitert, die im Westen gemeinhin mit lateinamerikanischer Musik verbunden werden. Dalts Folklore changiert zwischen Kindheitssehnsucht und Abstraktion und zeigt, dass traditionelle Musik weder statisch noch gestrig klingen muss, sondern ein Kaleidoskop darstellen kann, durch das ihre eigene Identität in immer neuer Form aufblitzen darf. Für den Jahresausschuss: Laura Aha

The Düsseldorf Düsterboys

Duo Duo
CD/LP, Staatsakt AKTCD890 (Bertus)

Weniger ist dann doch mal wieder mehr. Aus dem Quartett, das sich 2012 in Essen (!) gegründet hat, wurde kürzlich ein Duo – und nichts fehlt. Klingt komisch, ist aber so. Die beiden DD-Protagonisten Peter Rubel und Pedro Goncalves Crescenti brauchen nicht viel, um besondere Musik zu machen. Zwei Gitarren und zwei Stimmen bilden das Fundament. Dazu kommen einfache, meist mehrdeutige Texte, changierend zwischen Dadaismus, Naivität und Küchen-Philosophie. Der Rest ist Spielerei, wenn etwa ein klappriges Klavier zu hören ist oder sich seltsame Retro-Sounds in manche Songs schleichen. Musikalisch ist »Duo Duo« der Inbegriff von Eskapismus und Eklektizismus. Hier eine Portion Anti-Folk, dort eine fragile Samba-Ästhetik, dann wieder ein leicht unfertig-minimalistischer Pop-Song. Eine zarte, rauschhafte Leichtfüßigkeit mit sympathischer Melancholie prägt den Grundduktus dieser angenehm entschleunigten Platte. »Duo Duo« ist ein Album, dass unaufgeregt daherkommt, aber viele aufregende Momente bereithält. Für den Jahresausschuss: Matthias Wegner

Händl Klaus

»Zrugg«
In Erinnerung an Rachèle Moser-Schiffmann.
Julia Gschnitzer, Jasmin Mairhofer u.a., Perkussion: Andreas Schiffer. Regie: Martin Sailer. Stream, ORF 2022

Händl Klaus hat mit seinem Hörspiel »Zrugg« ein Meisterstück aus Dialekt und Dialektik geschaffen. In Tiroler Mundart sprechen – und denken – ganz alte und ganz junge Menschen über ein mal dunkel verschwommenes, mal sehr konkretes Gestern. Der rote, eigenwillig gesponnene Faden: Ein Dichter sucht nach dem existentiellen Wort, welches ihm entfallen ist, und alle versuchen, ihm bei dieser Erinnerungsarbeit zu helfen. So entsteht ein Teppich aus Geschichten und Gedanken, überaus feinsinnig geknüpft und hochpoetisch. Unser Wort dafür tönt eher simpel: genial! Für den Jahresausschuss: Jörn Florian Fuchs

Symbolbild © Axelator at English Wikipedia

Werner Fritsch

»Mixing Memory & Desire«
Angela Winkler, Ilse Ritter, Sylvester Groth, Nuri Singer u.a., Musik: Werner Cee. Regie: Werner Fritsch. Stream, SWR 2022

Werner Fritsch ist ein Meister der Vielfalt. In seinen blitzgescheiten, hochpoetischen, oft auch wunderbar skurrilen Arbeiten fürs Radio, für den Film, für die Bühne, entfaltet Fritsch ein Panoptikum rauschhafter Poesie, immer verbunden mit stark autobiografischen Zügen. »Mixing Memory & Desire« bringt mühelos die Suche nach dem Heiligen in der Askese mit der Verehrung für Jimi Hendrix, die Liebe zum Oberpfälzer Dialekt mit dem als traumatisch empfundenen Schul-Drill zum Hochdeutschen zusammen. Mal schneien wundersame, sanfte Bilder und Gedanken aus dem Ideenhimmel des Autors herab, dann wieder stürmt und hagelt es. Gewaltige Assoziationsblitze gehen durch Mark und Bein und in Herz und Hirn des Hörers. Ein Meisterstück! Für den Jahresausschuss: Jörn Florian Fuchs

Foto: Die Schauspielerin Ilse Ritter und der Autor und Regisseur Werner Fritsch während der Aufnahmesitzungen. © Werner Fritsch

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